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Der komplette Beitrag der „Neue Zürcher Zeitung“
„«Super-Leicht» trifft es auch nach 70 Jahren Mercedes SL bestens“
«Super-Leicht» trifft es auch nach 70 Jahren Mercedes SL bestens Unter dem Motto «Mythos SL» feiert Mercedes die lange Geschichte seiner superleichten Wagen. Wir gehen damit auf die Straße, suchen die Schwachstellen und bestimmen unsere Favoriten. Ein Erfahrungsbericht für Liebhaber. Herbie Schmidt, 10.07.2021, 05.30 Uhr Fast 70 Jahre Mercedes SL in Reih‘ und Glied. Von rechts vorn nach links hinten: Mercedes-Benz 300 SL Rennsportwagen (W 194) von 1952, Mercedes-Benz 300 SL Rennsportprototyp (W 194/11) für die Saison 1953 , Mercedes-Benz 300 SL Coupé (W 198) von 1957, Mercedes-Benz 190 SL (W 121) von 1961, Mercedes-Benz 300 SL Roadster (W 198) von 1960, Mercedes-Benz 280 SL (W 113) «Pagode» von 1970, Mercedes-Benz 350 SL (R 107) von 1971, Mercedes-Benz SL 600 (R 129) von 1995, Mercedes-Benz SL 55 AMG (R 230) von 2005, Mercedes-Benz SL 500 (R 231) Special Edition «Mille Miglia 417» von 2015. Es ist schon ein seltenes Ereignis. Mercedes gibt uns an einem sonnigen Junitag die Möglichkeit, in die bald 70-jährige Geschichte des SL einzutauchen. Fein säuberlich aufgereiht, stehen hier Exemplare aller Baureihen, bereit für die Probefahrt. Die klassische Qual der Wahl. Die eigentliche Geburtsstunde des SL findet am 12. März 1952 statt. Auf einem Autobahnstück bei Stuttgart präsentiert Mercedes den 300 SL (Baureihe W194) als «reinrassigen Rennsportwagen». SL steht von Beginn an für «Super-Leicht». Das Fahrzeug mit den kleinen Flügeltüren, entwickelt von Rudolf Uhlenhaut, ist mit seinem 50 Kilogramm leichten Gitterrohrrahmen ein grosser Wurf und erzielt auf Anhieb in fünf Rennen vier Siege, darunter bei den Mille Miglia, in Le Mans und auf der Carrera Panamericana. Die 1954 lancierte Serienversion des Fahrzeugs verfügt wie der Rennwagen über Flügeltüren, wenngleich diese nun tiefer beginnen, um den Ein- und Ausstieg zu erleichtern. Heute erzielt das in nur 1400 Exemplaren gebaute Fahrzeug Sammlerpreise um die 1,5 Millionen Franken. Wir aber sitzen im 300 SL Roadster, für den im Klassikmarkt eine Null weniger bezahlt wird als beim «Gullwing». Und dies, obwohl der Roadster technisch weitgehend dem Coupé entspricht. Die Vorfreude auf die Fahrt im Modell von 1958 jedenfalls ist unbezahlbar. Der 300 SL Roadster von 1958 fährt sich wie ein zeitgenössisches Fahrzeug. Die Viergang-Handschaltung ist verblüffend präzise. Wir nähern uns der flachen und zeitlosen Karosserie mit den markanten Querwölbungen über den Rädern und nehmen in einem Roadster Platz, der wirkt, als sei er gerade erst zwanzig Jahre alt. Im Cockpit glänzt das Chrom, der Rückspiegel thront auf dem Armaturenträger, der Schaltknauf des Vierganggetriebes liegt gut in der Hand. Ein Sitzgurt aber fehlt in diesem Wagen noch. Eine Eigenheit des 300 SL Roadster von 1958 ist der fehlende Blinkerhebel, stattdessen wird der Chromring im Lenkrad gedreht. Was überrascht, ist die Tatsache, dass sich die Fahrt anfühlt wie bei einem zeitgenössischen Cabrio: Das Fahrwerk ist straff, die Lenkung verfügt über einen guten Geradeauslauf, die Gänge rasten präzise ein, Zwischengas ist beim bereits synchronisierten Getriebe nicht erforderlich. Zum Blinken drehen wir am Chromring im Lenkrad, der jedoch nach der Kurve nicht zurückrastet. Schick, aber etwas unpraktisch. An früher erinnert sonst bestenfalls die Bremse. Der Wagen verfügt noch über Trommelbremsen, die hohen Pedaldruck verlangen, bis die Verlangsamung fast schlagartig einsetzt. Der direkte Nachfolger des ersten SL ist die Baureihe W113, die aufgrund der auf allen Seiten angeschrägten Fenster den Spitznamen «Pagode» erhält. Gegenüber dem Vorgänger überzeugt er mit verbesserten Werten in Sportlichkeit, Komfort und Sicherheit. Der bronzene Wagen ist wie alle SL aus dem Mercedes-Museum tadellos gepflegt und besticht durch die stilechten Weißwandreifen. Der 280 SL von 1968 lässt die 170 PS seines 2,8-Liter-Motors kräftig spüren. Bekannt als «Pagode», ist der Mercedes 280 SL von 1968 für seine aufrechte Frontscheibe und das Fehlen von Luftverwirbelungen bekannt. Die Wandler-Automatik erstaunt durch etwas ruckartige Gangwechsel, der Geradeauslauf der Lenkung ist abenteuerlich, so groß ist das Spiel zwischen den Lenkbewegungen. Dennoch ist das Einlenkverhalten sehr spontan, die Kurvenfahrten bereiten in der 1968er Pagode grosses Vergnügen. Die Federwege des 280 SL sind hoch, Bodenwellen und Löcher meistert das Cabrio souverän. Und doch lässt sich das Fahrwerk nicht als schwammig bezeichnen, denn die Seitenneigung der Pagode ist in Kurven gering. Auffallend ist die gelungene Luftführung auch bei heruntergelassenen Seitenscheiben, es kommt zu praktisch keinen Luft Verwirbelungen während der Fahrt. Die Automatik im 1968er SL ist etwas ruckelig, doch das ist Jammern auf hohem Niveau. Die Pagode löst Mercedes durch die erste SL-Baureihe (R107) mit Achtzylindermotor ab, die von 1971 bis 1989 gebaut wird – ein Rekord bei den SL. Der Wagen von 1988 erinnert stark an die E-Klasse der Baureihe W123, denn praktisch alle Schalter und Armaturen sind übernommen – moderne Gleichteilepolitik gab es schon damals. Die Laufruhe des Fahrzeugs ist enorm, doch bei der Gasannahme bewegen sich die acht Zylinder nur zögerlich. Der SL der Baureihe R 107 (im Bild der gefahrene Wagen von 1988) ist der eigentliche Dauerläufer im Programm, er wird 18 Jahre lang gebaut. Vieles im 1988er 300 SL erinnert an den berühmten W123, denn viele der Teile sind auch im SL übernommen, so auch die Armaturen. Das getestete Fahrzeug ist mit einer Handschaltung ausgestattet, doch war dieses Element schon damals nicht die große Stärke von Mercedes. Der Schaltknüppel erscheint beim Gangeinlegen fast elastisch, doch die Gangwechsel fühlen sich knorpelig an. Das Kurvenverhalten ist ausgezeichnet, das Fahrwerk ist straffer als beim Vorgänger, die Lenkung sehr direkt ausgelegt. Wie bei den anderen Museumsautos ist der Fahrersitz komfortabel. Im gefahrenen 300 SL von 1988 stellt einzig die etwas unharmonische Handschaltung einen Kritikpunkt dar. Die Geschichte führt uns zum SL der Baureihe R129, der 1989 lanciert wird und in vielerlei Hinsicht einen Meilenstein darstellt. Erstmals gibt es einen Überrollbügel, der bei der Gefahr eines Überschlags in 0,3 Sekunden nach oben klappt. Erstmals ist dieser SL auch mit Zwölfzylindermotoren und bis zu 525 PS zu haben. Für eine ausgiebige Testfahrt aber reicht die Zeit nicht. Quasi zum Dessert folgt stattdessen die Ausfahrt im Mercedes SL der Baureihe R230, der von 2001 bis 2012 gebaut wurde. Das erstmals mit Klappdach ausgestattete Cabrio lässt sich innerhalb von 16 Sekunden in ein Coupé verwandeln. Der Testwagen ist ein SL 63 AMG von 2008 mit 525 PS. Wir sehen uns in die Neuzeit versetzt und genießen die Früchte moderner Technik in vollen Zügen. Der Schalensitz umfängt den Fahrer präzise, perfekt für schnelle Kurvenfahrten. Das Interieur entspricht den nuller Jahren, die Karosserie ist so gestaltet, dass der Wagen schon bei der Lancierung Chancen zum späteren Klassiker hat. Ein SL der Gegenwart scheint der Wagen der Baureihe R230 zu sein, auch wenn er bereits 2001 lanciert wurde. Erstmals sorgt ein Klappdach für eine Kombination aus Cabrio und Coupé. In den nuller Jahren waren Doppelscheinwerfer dieser Art Mode. Auch der SL von 2008 verfügt über dieses Merkmal. Das Interieur zeigt noch die Schalter-Verliebtheit im Design des frühen 21. Jahrhunderts. Die Schalensitze sind ein besonderer Genuss. Der V8-Motor mit 6,2 Litern Hubraum und 525 PS bollert respektheischend, die Lenkung erreicht in Sachen Präzision und Einlenkverhalten einen hohen Grad an Perfektion. Zur Leistung passend ist die Bremsanlage so hervorragend wie das Fahrwerk. Man ist geneigt, im SL der Baureihe R230 bereits das perfekte Auto zu erkennen. Ab 2012 ersetzt die neue SL-Baureihe R231 die bisherigen Superleichten. Erstmals baut Mercedes ein Sport-Cabrio mit Vollaluminiumkarosserie und spart damit 140 Kilogramm Leergewicht, ohne dafür Stabilität zu opfern. Doch unsere Zeitreise rund um das Innovation Center von Mercedes in Sindelfingen hat bereits geendet. Das nächste Kapitel des «Mythos SL» dürfte jedoch noch 2021 geschrieben werden. Dann rollt die jüngste Generation des Mercedes SL an. Ob die Baureihe R232 ein Elektroauto sein wird?